Egal ob Europaparlament, Bundes- oder Landtag, eine Sache bleibt immer gleich: Im Nachgang wird die geringe Wahlbeteiligung lauthals beklagt. Politikverdrossenheit, unattraktive Parteien, wenig Ansprache junger Generationen, Frustration – eine ganze Reihe Theorien zur Ursache werden aufgestellt und diskutiert. Der Spaß ist von kurzer Dauer, dann geht alles wieder seinen Gang, bis zur nächsten Wahl. Vermutlich ist an all diesen Überlegungen etwas dran und doch sind sie relativ theoretischer Natur. Praktische Aspekte kommen zu kurz.
Bekommt wirklich jeder Wahlberechtigte Wahlunterlagen?
Dass diese jedoch relevant sind, habe ich bei einem kürzlich mit einer Freundin geführten Gespräch festgestellt. Sie ist ebenfalls Kölnerin und erzählte mir, dass sie dieses Mal zumindest überhaupt wählen könne, bei der Europawahl sei das nicht möglich gewesen. Wie das, wollte ich erstaunt wissen – sie bekäme keine Wahlunterlagen. Dann berichtete sie:
Da sie sich viel im Ausland aufhält, hat sie einen langlaufenden Nachsendeauftrag eingerichtet, der ihre Post an einen engen Freund, auch aus unserer Stadt, weiterleitet. Das ist nicht ganz billig, aber in diesem Fall unumgänglich. Er öffnet und fotografiert ihre Post auf Wunsch und bringt sie ihr mit, wenn sie im Land ist. Die Wahlunterlagen 2024 erreichten sie allerdings nicht. Die Zeit drängte, denn sie war rund um den Wahltag nicht im Land und daher auf Briefwahl angewiesen. Daher wendete sie sich mit ihrem Problem ans hiesige Wahlamt und erhielt zur Antwort, sie solle über den mitgeschickten Link Briefwahl beantragen. Eine Entschuldigung oder Erklärung für die fehlenden Unterlagen erfolgte nicht. Auch die daraufhin beantragten Briefwahlunterlagen trafen nie ein und sie musste abreisen, ohne wählen zu können.
Dasselbe dieses Jahr, allerdings bequemte sich das Wahlamt auf ihre Nachfrage (allerdings erst auf die dritte) zur Auskunft, man werde ihr weder Wahl- noch Briefwahlunterlagen schicken, weil sie einen Nachsendeauftrag eingerichtet habe. Eine Berechtigung, deshalb die Wahlunterlagen zurückzuhalten, findet sich in den offiziellen Informationen zur Wahl * übrigens nicht. Sowohl ihr Einwand, dass es sich bei der Nachsendeadresse um eine erreichbare Anschrift handele, als auch das Angebot, die Unterlagen als „nicht nachsenden“ zu markieren, da sie aktuell ja im Land ist, wurden abgelehnt. Der Bitte um eine nachvollziehbare Erklärung wurde ebenfalls nicht entsprochen – tatsächlich hüllte sich das Wahlamt von da an gänzlich in Schweigen. Nun wird sie mit ihrem Personalausweis wählen gehen. Wäre sie jedoch erneut auf die Briefwahl angewiesen, hätte sie das Kölner Wahlamt erfolgreich an der Teilnahme gehindert.
Der Einfluss auf die Wahlbeteiligung könnte größer sein als gedacht
Was lerne ich daraus? Man kann sich nicht über mangelnde Wahlbeteiligung wundern – oder beschweren –, wenn Teile der Bürger nicht einmal die Möglichkeit haben, zu wählen, oder aber diese künstlich erschwert wird. Wie viele Wahlberechtigte von diesen oder ähnlichen Missständen betroffen sind, wird nicht erhoben. Auch eine Beschwerdemöglichkeit existiert nicht.
Ein Nischenproblem? Nicht wirklich: Repräsentativ das Jahr 2024 betrachtend, wurden 4,04 Millionen Nachsendeaufträge wegen Umzugs gestellt, die meisten davon für drei Monate.** Zum Wahlzeitraum sind also durchschnittlich 1,01 Millionen Nachsendeaufträge aktiv. 2021 haben 47,3 % der Wähler die Briefwahl genutzt, 23,7 % haben nicht gewählt. Bei 59,2 Millionen Wahlberechtigten und annehmend, dass Personen mit Nachsendeaufträgen ebenso oft die Briefwahl nutzen würden wie alle übrigen, handelt es sich um 477.730 Betroffene. Selbstverständlich kann ich hier nur eine sehr grobe Schätzung bieten. Aber allein die durchaus realistische Möglichkeit, dass fast eine halbe Million Menschen nur deshalb nicht wählen, weil Wahlämter Unterlagen nicht wie vorausgesetzt zustellen, stimmt mich sehr nachdenklich.
** https://www.postadress.de/umzugsstudie.pdf