Trotz aller Skandale gewinnt die AfD seit ihrer Gründung langsam, aber stetig Mitglieder. Passend dazu steigt der Einfluss rechter und rechtsradikaler Strömungen in der Bevölkerung. Welche Gründe gibt es dafür? Was für Methoden werden genutzt, um Wähler zu manipulieren? Welche Rolle spielen die Medien? Und was könnten Lösungsansätze sein? Hier veröffentliche ich in loser Folge eine Essaysammlung rund um die Themen AfD und Faschismus sowie Migration und Integration.
Hier findet ihr die anderen Teile:
Strukturschwäche und Segregation
Migration und Integration I
Dieses Thema habe ich aufgrund seiner Komplexität in zwei Teile geteilt – trotzdem können meine Ausführungen der Problematik und den daraus folgenden gravierenden menschlichen Konsequenzen nur bedingt gerecht werden.
Die Diskussion um Migration – genug, zu viel, zu wenig – geht fast immer auch mit der Integrationsdebatte einher. Dabei stellt sich die Frage, was genau Integration eigentlich ist, wann sie gelungen ist und – darum soll es hier gehen – was sie erschwert. In diesem Rahmen möchte ich mich nicht mit einzelnen Menschen beschäftigen, sondern mit der staatlichen Seite. Denn wenn es um politische und gesellschaftliche Fragen geht, geht es automatisch auch darum, was ein Staat dazu beitragen kann.
Interessanterweise wird schon in der Diskussion Integration oft als einseitige Forderung – etwas, das Migranten zu erfüllen haben – dargestellt. Eigentlich bedeutet Integration jedoch das Teilhaben, das Eingefügt-Sein in gesellschaftliche Prozesse und soziale Strukturen. Als einseitige Forderung findet der Begriff „Integration“ ausschließlich in Kombination mit Migranten Anwendung. Nahezu niemand käme beispielsweise auf die Idee, zu behaupten, alte, einsame Menschen oder behinderte Menschen würden sich nicht ausreichend integrieren. In diesen Fällen wird der Handlungsdruck klar bei der Gesellschaft verortet: Wir sind dafür verantwortlich, diese Menschen zu integrieren und ihnen Teilhabe zu ermöglichen. Das hat nichts mit der „Schuldfrage“ zu tun, sondern mit der generellen Zuständigkeit eines Staats für die sich auf seinem Gebiet befindlichen Menschen.
Kommen wir aber zurück zu Migranten. Mittlerweile gibt es sehr viel Forschung darüber, wie Integration gelingt und wie nicht, welche Faktoren eine schnelle Integration und das heißt ein Zugehörigkeitsgefühl zu unserer Gesellschaft, Teilhabe am Arbeitsmarkt und Verständnis hiesiger Werte begünstigen. Und umgekehrt, welche dies verhindern. Nun sollte man meinen, bei Integration seien sich alle einig: Arbeit und damit Steuern sind gewünscht, geteilte Werte anstatt messerschwingende, isolierte Fanatiker – diese Darstellung entspricht nicht meiner Meinung! – müssten von links bis rechts gewollt werden. Ja, sogar von der AfD, die doch immer so schimpft über den Verlust deutscher Werte.
Spannenderweise schlägt sich das in der deutschen Politik nicht nieder und hat das auch in den vergangenen Jahrzehnten niemals getan. Durchweg alle Forschungsergebnisse werden konsequent ignoriert und quer durch die Parteien eine Migrationspolitik gefahren, die Integration extrem erschwert. Stattdessen werden selbst die wenigen wegweisenden Programme unterfinanziert oder vollständig eingestellt. Gleichzeitig lassen sich oft „Irgendwann reicht es, die müssen auch wollen“ und ähnliche Aussagen aus der Bevölkerung vernehmen. Fakt ist jedoch: Es wird und wurde nie ernsthaft versucht. Wenn ein weiterer Rechtsruck also aufgehalten, optimalerweise ins Gegenteil verkehrt werden soll und damit auch die drohenden Konsequenzen – Ausgrenzung, Einschränkung diverser Freiheitsrechte, wirtschaftlicher Niedergang – verhindert, muss dringend echte Integration stattfinden.
Was sind nun Aspekte, die Integration in Deutschland so schwer machen oder vereinfachen würden?
Denkbar einfach ist der Faktor Sprache. Wer die Landessprache nicht beherrscht, kann nur eingeschränkt am Arbeitsleben teilnehmen. Mehr noch überwiegen die Alltagsprobleme: Ob Arzt oder Schule der Kinder, Bücherschrank oder Ehrenamt – Sprache ist essenziell für Teilhabe jedweder Art. Zugleich ist es, vor allem für Erwachsene, eine Herausforderung, aus dem Nichts heraus eine neue Sprache zu lernen, zumal Deutsch nicht unbedingt als einfach gilt. Wenn gleichzeitig auch ein neues Alphabet erlernt werden muss, weil das Heimatland beispielsweise arabische oder kyrillische Buchstaben verwendet, erschwert das den Erwerb weiter.
Aktuell erhalten Migranten 700 Einheiten á 45 Minuten Integrationskurs, wobei 600 für Sprache und 100 für Orientierung vorbehalten sind. Das klingt viel – ist es aber nicht. Die Dauer entspricht einem Jahr Unterricht mit weniger als drei Stunden pro Werktag. Für sicheren Stand in Sprache und vor allem Schrift reicht das für die meisten Menschen nicht, besonders für Erwachsene. Das geht durchaus besser:
Ausgerechnet Dänemark, das hier eher für seine kompromisslose Politik im Zusammenhang mit Migration bekannt ist (vor allem, weil es, ebenso wie Schweden, über Jahre hinweg Ghettobildung befördert hat), geht seit Langem einen anderen Weg. Dort stehen Migranten 1800 bis 2230 Stunden zur Verfügung, mehr als dreimal so viel wie in Deutschland. Eine Langzeitauswertung der Ergebnisse zeigte: Es fand sich zwar kein Einfluss auf die Kriminalitätsrate (hier sind andere Faktoren wichtiger), dafür jedoch auf die Art der Beschäftigung. Ältere Migranten übten häufiger hochqualifizierte Tätigkeiten aus, jüngere studierten häufiger. Abgesehen von den sozialen Möglichkeiten bietet stärkere Investition in Sprachbildung also erhebliche Vorteile für die Arbeitswelt sowie das Steuereinkommen des Aufnahmelandes.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist Familiennachzug. Je weiter das Fluchtland entfernt liegt, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich bei Migranten um junge Männer handelt. Die Gründe sind denkbar einfach: Ihnen werden die Strapazen der Flucht am ehesten zugetraut – viele Flüchtlinge wissen, dass ihre Reise lebensgefährlich ist. Je nach Land, Route und Möglichkeiten greifen Familien auf Schlepper zurück, in der Hoffnung, den Weg sicherer zu gestalten. Doch Schlepper sind teuer, selbst für eine Person muss oft weite Verwandtschaft zusammenlegen, Geld wird geliehen, Eigentum, so vorhanden, verkauft. Wer die Summe nicht zusammenbekommt, flieht ohne Schlepper – mit noch größerem Risiko. Frauen fliehen seltener und kürzere Strecken: Die Wahrscheinlichkeit, auf der Flucht vergewaltigt zu werden, liegt bei etwa 70 Prozent, viele werden Opfer von Zwangsprostitution, manche verschwinden. Frauen wissen um oder erahnen das Risiko häufig. Auch für Kinder endet Flucht nicht selten tödlich.
Ein weiterer Grund liegt oft in einer speziellen Gefahr für junge Männer: In vielen Ländern werden sie für kriegerische Auseinandersetzungen rekrutiert, dabei wird auch schwerste Gewalt bis hin zum Mord eingesetzt. Dann heißt es: Wer nicht töten oder getötet werden will, muss flüchten.
Aufgrund dieser Umstände fliehen oftmals Männer alleine, in der Hoffnung, ihre Familie bald auf weniger gefährlichem Wege nachholen zu können. Das allerdings ist häufig ein Irrtum: Allein bis zur Anerkennung des Flüchtlingsstatus kann es bis zu einem Jahr dauern. Danach muss ein gesicherter Aufenthaltsstatus vorliegen, dazu eine dauerhafte Erwerbstätigkeit – bis der Antrag gestellt werden kann, der erneut nicht unter drei Monaten Bearbeitungsdauer verschlingt. Nicht zuletzt müssen Ehepartner Grundkenntnisse in Deutsch vorweisen (nicht die hier lebenden, sondern die in den Fluchtländern verbliebenen!) Letztlich ist Familienzusammenführung Glückssache – aus politischen Gründen wird sie immer wieder ausgesetzt. Im Ergebnis sehen viele Migranten Frau und Kinder über Jahre hinweg nicht, was auf beiden Seiten zu Entfremdung und Traumatisierung führen kann. Insbesondere Kinder leiden enorm unter dieser Unsicherheit. Geflüchtete hingegen sind beständig mit der Angst um die Familie befasst, was Aggression und Depression befördert, anstatt die Konzentration auf das Aufbauen eines neuen Lebens zu gestatten.
Paradox: Gerade Gruppierungen, die sich gerne und reichlich über die „vielen jungen Männer“ beschweren, votieren häufig gegen den Familiennachzug – also gegen den Schutz von Frauen und Kindern.
Abschiebung gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, die Geflüchtete machen können. Abschiebungsbeobachter berichten dabei oft von Zuständen, die an Diktaturen erinnern: Familien werden mitten in der Nacht geweckt und bekommen 1-4 Stunden Zeit, um ihre Habseligkeiten zusammenzupacken. Diese Praktik schließt auch Kinder mit ein: Elf Prozent aller Abgeschobenen sind minderjährig. Die Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit geht so weit, dass mehrere Fälle bekannt wurden, in denen Personen während laufender Behandlungen aus Krankenhäusern entfernt wurden. Dabei werden auch Länder als sicher definiert, in denen katastrophale Zustände herrschen: Syrien, das selbst nach der Entmachtung von Assad immer wieder durch Massaker an Bevölkerungsteilen von sich reden macht. Nigeria und Uganda, deren Gesetze das Erhängen homosexueller Männer vorsehen. Zynisch: Oft müssen Flüchtlinge beweisen, dass sie aufgrund von Homosexualität verfolgt wurden. Das ist jedoch schwierig, wenn langjährige Gefängnisstrafen oder Hinrichtung vorgesehen sind: Wer hingerichtet wurde, flüchtet nicht.
Ähnliche Kritik gilt der Abschiebung nach Afghanistan, wo Frauen selbst lautes Sprechen auf der Straße verboten ist. Allein die Vorstellung, eine Frau könnte in Afghanistan „sicher“ sein, ist vollkommen absurd. (Wobei zu beachten gilt, dass Männer mitnichten viel sicherer sind, wenn sie sich in den Augen der Taliban „falsch“ benehmen.)
Abschiebungen traumatisieren nicht nur die Abgeschobenen selbst, sondern destabilisieren oft das gesamte Umfeld: Nachbarn bekommen die nächtliche Abholung, die leer stehende Wohnung mit – wenn sie selbst keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben, leben sie oft mehr noch als zuvor in Angst. Selbst bei Menschen mit gesichertem Status provoziert die Wahrnehmung von Abschiebung oft Gefühle des Ausgestoßenseins und der Furcht. Kinder, die plötzlich aus Schulklassen verschwinden, hinterlassen zahlreiche Fragen: Wo ist der Mitschüler hin? Wollte er weg? Warum darf er nicht bleiben? Hat er etwas Schlimmes gemacht? Wird es ihm gut gehen, dort, wo er jetzt ist? Und im Falle von Kindern mit Migrationshintergrund: Kann mir das auch passieren? Bei Kindern verbleibt Angst vor der Zukunft, Unsicherheit und das Gefühl, nicht gewollt zu werden.
Diese Eindrücke mit der Anforderung, sich zu integrieren, unter einen Hut zu bringen, ist für Minderjährige, oft aber auch für Erwachsene, unmöglich. Besonders perfide daran:
„Dabei dürfen Integrationsleistungen, so löblich sie auch sind, nicht berücksichtigt werden.“
(Sprecher des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zum Thema Abschiebungen in den Irak, Quelle: T-Online)
Dass Integration sich also oftmals nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund sinnlos anfühlt, sondern in Deutschland faktisch sinnlos ist, nimmt Betroffenen jedwede Motivation. Zur Abschiebepraxis – dass eben nicht kriminelle, sondern oftmals besonders gut integrierte Personen, darunter nicht selten Frauen und Kinder, abgeschoben werden – kann ich folgenden Artikel nur ans Herz legen:
Abschiebung trotz vorbildlicher Integration (web.de)
Zynischerweise erklärt derselbe Staat, der Integration verunmöglicht, Männer, Frauen und Kinder in Länder abschiebt, in denen ihnen Folter und Tod droht, ausgerechnet auf der Seite des Ministeriums des Inneren, wie wichtig Integration sei. Integration gelingt jedoch nur in einer Atmosphäre von Sicherheit, Hoffnung, Zukunftsaussichten und Angstfreiheit – die stetige Bedrohung durch Abschiebung erzeugt das Gegenteil.
Ausgewählte Quellen:
https://www.deutschlandfunk.de/kritik-am-integrationsgesetz-fragwuerdig-fehlgeleitet-und-100.html
https://www.zeit.de/2022/31/integration-sprache-gefluechtete-sprachkurs-studie
https://www.auswaertiges-amt.de/de/2727950-2727950
https://mediendienst-integration.de/artikel/was-bedeutet-ein-stopp-des-familiennachzugs.html
https://www.dw.com/de/abschiebungen-nach-syrien-sorgen-f%C3%BCr-kritik/a-74452143
https://www.proasyl.de/pressemitteilung/suizid-eines-aus-deutschland-abgeschobenen-afghanen/