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Ode an die Eckkneipe

 

Kneipen, egal ob gehoben mit Lederinterieur oder leicht angesifft mit abblätternder Farbe und Holzschemeln, übten schon immer eine große Faszination auf Künstler aus. Wenig überraschend sind unzählige Werke von der Gastronomie inspiriert, angefangen vom weltberühmten, aber kühlen Gemälde „Nighthawks“ bis zu Hunter S. Thompsons Buch „The Rum Diary“. Und dann ist da noch Billy Joel, der das Lebensgefühl in einer echten Spelunke so gut traf, dass die meisten Gastronomen, die ich kenne, ihn vor lauter Klischee gar nicht spielen.

 

Warum Eckkneipen zur bedrohten Spezies werden

Netflix & Chill ist Trend, social anxiety scheint die Geißel halber Generationen zu sein. Nicht die beste Grundlage, um rauszugehen, sich in eine unbekannte (oder auch bekannte) Bar zu setzen und mit (noch) fremden Menschen ein Getränk zu sich zu nehmen. Nicht nur, aber vor allem für Frauen kommt eine größere Sensibilität hinsichtlich sexueller Übergriffe hinzu, die als vermeintliche oder tatsächliche Gefahr in Gaststätten drohen.

Vor allem aber steht das Rausgehen, das Ausgehen immer mehr infrage. Kinos beklagen mangelnde Gästezahlen ebenso wie Clubs. Die Ausgehkultur hat sich noch nicht von Corona erholt, umgekehrt ist es kurzsichtig, hierfür nur Corona verantwortlich zu machen – auch zuvor war die Zahl der Kneipen rückläufig. Das Sichverkriechen ist schlicht modern, Unterhaltung dank Streaming ständig im Übermaß vorhanden, soziale Kontakte dank digitaler Netzwerke vermeintlich von überall aus verfügbar und dank Lieferdiensten gilt das auch für jedes beliebige Essen. Kontakt zu echten Menschen scheint zunehmend mit Anstrengung und Angst verbunden zu sein. Nicht zuletzt ist auszugehen teuer, Speise-, aber auch Bierpreise sind in den vergangenen Jahren gestiegen, zugleich ist der Blick ins eigene Portemonnaie bei vielen von uns bestenfalls mit Stirnrunzeln verbunden.

Und das trifft auch auf die Gastwirte zu – gewissermaßen die andere Seite der Medaille. Ein Bekannter von mir, Inhaber einer größeren Eckkneipe, berichtete mir vor Kurzem bedrückt, von dem, was der Rechteinhaber dafür verlangt, dass seine Gäste Fußball schauen können, könnte er jedes Jahr einen Kleinwagen kaufen. Leider ist das keine Übertreibung, die Summe ist fünfstellig. Verteuerungen bei Strom, Wasser, Bier, Pacht, Mindestlohn – es gibt wenige Branchen, die derart multifaktoriell belastet werden. Und das nach der Pandemie, die viele Gastronomen sämtliche Rücklagen kostete, nicht selten auch die private Altersvorsorge. Viele müssen aufgeben – manche, weil das Geld tatsächlich nicht mehr reicht, andere, weil unter so viel Druck die Freude am Beruf dahin ist.

 

Aber der Alkohol …?

Manch einer argumentiert, das habe auch sein Gutes. Denn ebenso wie die Anzahl von Bars verringert sich der Pro-Kopf-Alkoholkonsum seit Jahren. Letzteres ist durchaus positiv und so ließe sich der Schluss ziehen, dass weniger Kneipen auch zu weniger Alkoholsucht führen. Leider ist dem nicht so.* Denn die Anzahl der Alkoholabhängigen bleibt beinahe gleich. Obwohl also weniger in Kneipen getrunken wird, wird nicht weniger problematisch getrunken. Ein Grund dafür dürfte im Suchtverhalten selbst liegen, das mit großer Scham behaftet ist: Abhängige trinken oftmals lieber allein als in Gesellschaft, schon weil Uhrzeit, Häufigkeit und Menge anderen Menschen auffallen könnten. Das mag gerade im gastronomischen Umfeld – wo Alkoholkonsum aus naheliegenden Gründen normalisiert ist – seltsam klingen, ist es jedoch nicht. Die allermeisten Kneipengänger trinken nicht in gesundheitlich bedenklichem Maße. Es ist daher nicht selten, dass ein sehr hoher oder regelmäßiger Konsum kommentiert wird, sowohl seitens der Gäste als auch Wirte. Tatsächlich haben letztere wenig Interesse an alkoholabhängigen Kunden. Zum einen, weil dies häufig mit Kontrollverlust – Gewaltausbrüchen, Belästigung, unbezahlte Deckel, besonders unerfreulich verschmutzte Toiletten – einhergeht, der geschäftsschädigend sein kann. Zum anderen, weil Wirte an einem Bier ohne Alkohol ebenso viel verdienen wie an einem mit Alkohol. Und nicht zuletzt, weil die meisten Gastronomen ihre Gäste mögen.

Mit ihrem Trinkverhalten aufzufallen, wollen Suchtkranke, denen ihr Zustand oft bewusst ist, vermeiden. Problematisch getrunken wird deshalb oft heimlich. Dieser Zusammenhang zeigt sich auch im Ländervergleich: Im Iran, der aufgrund der Scharia-Gesetzgebung jedweden Alkoholausschank streng verbietet, sind bis zu fünf Millionen Menschen alkoholabhängig – mehr als drei Mal so viele wie in Deutschland, bei nur geringfügig höherer Bevölkerung.

Die These, dass die Gastronomie von Alkoholismus im Sinne einer Sucht profitiert oder ihn gar erzeugt, ist daher nicht zu halten.

 

Warum ich Kneipen liebe

Zu meiner Linken sitzt Heinrich, der nach zwei Bandscheibenvorfällen mit 62 seinen wohlverdienten Ruhestand als Industrieschweißer genießt und eine Runde Schocken spielt. Rechts von mir ein junger Afrodeutscher mit baumelnden Ohrringen und umwerfendem Grinsen. Ich kenne seinen Namen nicht, aber das wird sich vielleicht gleich ändern, denn ich brauche einen Partner am Kickertisch – mal hören, ob er Lust hat. Weiter hinten hockt Armin und redet mit sich selbst. Es ist bekannt, dass er nicht zu viel Schnaps trinken darf, die Wirtin weiß darum und schickt ihn irgendwann nach Hause. In der Kneipe nebenan hat er wegen einer Schlägerei Hausverbot. Wir verstehen uns gut, ich weiß, dass er seine Erkrankung allein noch schlechter verpacken würde. Zwei Plätze weiter trinkt Lena langsam einen Weißwein. Sie kommt von ihrer eigenen Gastroschicht und möchte nach acht Stunden auf den Beinen, Lächeln, Bedienen und Zuhören, einfach in Ruhe sitzen.

All diesen Menschen würde ich im Alltag nur wort- und namenlos begegnen. Wir haben kaum Gemeinsamkeiten, außer hier zu sein. Nirgendwo sonst streife ich die Leben so vieler unterschiedlicher Charaktere mit ihren Berufen, Sorgen, Erfolgen und Macken. Nirgendwo ist es so einfach, über den Tellerrand zu blicken und Vorurteile loszuwerden. Denn in einer guten Kneipe ist egal, was du verdienst, an wen du glaubst oder mit wem du schläfst – solange du dich benimmst. Unter dem gestrengen Blick von Wirt oder Wirtin sind alle Gäste gleich.

 

Warum Kneipen wichtig für die Gesellschaft sind

Wir sind einsam. Nicht alle, nicht immer, aber zunehmend: Menschen aller Altersgruppen beschreiben in Studien häufigere und intensivere Einsamkeit. Handelte es sich früher in erster Linie um ein Problem der Senioren, ziehen nun auch junge Menschen in hohem Ausmaß nach: Knapp 32 Prozent aller 18- bis 29-Jährigen gaben an, sich oft einsam bis sehr einsam zu fühlen. Die Auswirkungen sind fatal, denn Einsamkeit lässt die Wahrscheinlichkeit für Demenz und psychische Erkrankungen, ja sogar für Herzinfarkte, in die Höhe schnellen. Aber wie kann das sein, in einer Gesellschaft, in der wir vernetzt sind wie nie zuvor? In der wir in jeder Lebenslage vom Bett über den Arbeitsplatz bis hin zur Toilette beständig kommunizieren können? Virtuell Menschen und Gruppen für jedes noch so nischige Interesse finden? Letztlich, weil digitaler Kontakt realen Kontakt nicht oder nur unzureichend ersetzen kann, aber genau so genutzt wird. Der Effekt ähnelt dem Verzehr von Fast Food: Irgendwie will man es haben, es steht in großzügigen Portionen zur Verfügung, aber es ist weder gesund noch macht es wirklich satt. Vor allem nicht dauerhaft.

Hinzu kommt, dass wir viel entwurzelter sind als früher: Wir ziehen häufiger um, verlieren damit den (realen) Kontakt zu Freunden, Nachbarn und Familien. Die Kirche ist für die meisten kein soziales Zuhause mehr und nicht jeder hat Interesse am Vereinsleben oder fühlt sich dort gut aufgehoben. (Gute!) Kneipen sind einer der wenigen Orte, an denen Sozialleben ohne Druck stattfinden kann. Denn hier kann man einfach fragen, ob jemand gemeinsam Kicker, Dart oder Billard spielt, vielleicht würfelt – oder doch Schach? Oft liegt irgendwo ein Brett unter der Theke. Hier und dort gibt es Kneipenquiz oder gemeinsames Tatortgucken im Angebot. Es existiert keine Verpflichtung, aber der Kontakt ist echt und er schenkt uns Minuten oder Stunden, die nicht allein auf ein Display starrend verbracht werden, ohne jemals satt zu werden. Und das haben viele von uns nötig – manchmal, ohne es zu ahnen.

 

In diesem Sinne

Now Paul is a real estate novelist
Who never had time for a wife
And he’s talkin‘ with Davy, who’s still in the Navy
And probably will be for life
And the waitress is practicing politics
As the businessmen slowly get stoned
Yes, they’re sharing a drink they call loneliness
But it’s better than drinkin‘ alone

 

– Billy Joel, Piano Man –

 

* Entwicklung Alkoholabhängigkeit