Coverbild: "Aufstieg der AfD" Migration

Der Aufstieg der AfD: Migration und Integration II

 

Trotz aller Skandale gewinnt die AfD seit ihrer Gründung langsam, aber stetig Mitglieder. Passend dazu steigt der Einfluss rechter und rechtsradikaler Strömungen in der Bevölkerung. Welche Gründe gibt es dafür? Was für Methoden werden genutzt, um Wähler zu manipulieren? Welche Rolle spielen die Medien? Und was könnten Lösungsansätze sein? Hier veröffentliche ich in loser Folge eine Essaysammlung rund um die Themen AfD und Faschismus sowie Migration und Integration.

Hier findet ihr die anderen Teile:

Einleitung

Harter Hund – harte Hand

Strukturschwäche und Segregation

Migration und Integration I

 

Migration und Integration II

Hier folgt nun der zweite Beitrag rund um Integrationshindernisse.

Therapieplätze sind rar, das ist kein Geheimnis, sondern ein dringendes Problem, das in Deutschland seit vielen Jahren bekannt ist und ebenso lange ignoriert wird. Für Flüchtlinge ist das besonders gravierend, denn ohne deutsche Krankenversicherung werden sie nicht versorgt, gleichzeitig sind Bedarf und Not extrem hoch: Mehr als 75 Prozent haben traumatische Erfahrungen durch Gewalterlebnisse wie Misshandlung oder Miterleben von Tötungen durchlitten, 30 Prozent leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Am höchsten sind die Zahlen unter Opfern von Vergewaltigung und Folter – sie benötigen besonders dringend eine Behandlung. Tatsächlich haben Geflüchtete jedoch nur bei akuten und lebensbedrohlichen Situationen überhaupt ein Anrecht auf medizinische Versorgung. Psychotherapie erhalten lediglich 3,3 Prozent, normalerweise im ehrenamtlichen Rahmen. Dabei ist eine rasche und ausreichende Versorgung entscheidend, um Chronifizierung und teils schwerwiegende Traumafolgestörungen zu vermeiden.

Kinder tragen unter diesen Umständen häufig schwere seelische Schäden davon und müssen professionell aufgefangen werden – insbesondere eine sichere und verlässliche Umgebung ist unverzichtbar. Die jedoch ist in vielen Unterbringungen nicht gegeben. Droht zudem noch eine Abschiebung, können sich katastrophale psychische Krankheitsbilder und Entwicklungsstörungen manifestieren.

Auch bei Erwachsenen ist die Lage oft schwerwiegend. Das Erleben von Gewalt und Tod in nächster Nähe ist selbst für ausgebildetes Personal wie Feuerwehr oder Polizei häufig extrem belastend. Trotz Therapieangeboten kommt es immer wieder zur Berufsaufgabe oder Folgestörungen. Flüchtlinge müssen solche Situationen jedoch ohne jede Vorbereitung oder Unterstützung überstehen. Ohne intensive therapeutische Begleitung ist das Risiko, selbst Gewalt auszuüben, erhöht – das gilt nicht nur für Geflüchtete, sondern für alle Menschen, die solche Situationen miterlebt haben, beispielsweise Soldaten oder Betroffene von Misshandlung in der Kindheit. Aber auch Depressionen und Angsterkrankungen werden wahrscheinlicher. Lange und intensive therapeutische Begleitung sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen mit Gewalterfahrung ist daher essenziell zur Gewaltvermeidung sowie für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe  – erfolgt aber so gut wie nie.

Unter solchen Umständen ist die Integration in die neue Gesellschaft erschwert bis unmöglich. Psychische Erkrankungen verhindern in schwerer Ausprägung das Lernen einer neuen Sprache ebenso wie das Aufnehmen einer Arbeit. Oft ist die Verzweiflung so groß, dass Flüchtlinge Suizid begehen – speziell bei drohender Abschiebung. Hierbei spielt auch das Land eine Rolle: Besonders häufig sind Suizidversuche, auch von Minderjährigen, unter Syrern und Afghanen. Insgesamt ist die Suizidrate bei Asylbewerbern erhöht, da sich viele in einer aussichtslosen Lage befinden. Zugleich werden Selbsttötungsversuche jedoch nur punktuell erfasst. Eine Dokumentation über Suizide nach der Abschiebung existiert überhaupt nicht. Durch Zufall bekannt geworden ist der Fall eines 23-jährigen Afghanen, der seit acht Jahren in Deutschland lebte. Er gehörte zu den Passagieren eines Abschiebeflugs an Horst Seehofers Geburtstag – dieser hatte sich öffentlich erfreut über die gerade an diesem Tag besonders „passende“ Zahl geäußert. Nach der Landung erhängte sich der junge Mann aus Verzweiflung.

 

Eigentlich sollte es niemanden wundern, aber: Rassismus schadet der Integration. Je hasserfüllter eine Umgebung ist, desto stärker schotten sich Menschen ab, um dieser zu begegnen. Der Instinkt dahinter ist so uralt wie selbstverständlich: Wer von Feinden umzingelt ist, wird misstrauisch, schließt sich zusammen und bewegt sich so wenig wie möglich nach außen. Aufgrund der Berichterstattung in den Medien und den Wahlerfolgen rechtsradikaler Parteien wird Migranten zunehmend deutlicher, dass sie unerwünscht sind, mit Repressalien und Benachteiligung rechnen, ja sogar Angst um ihre Gesundheit haben müssen. Flüchtlinge oder wirtschaftlich schwache Menschen, die keine andere Wahl haben, als hier zu sein, reagieren darauf mit zunehmend abgeschlossenen Communitys, die möglichst wenig verlassen werden. Und während Communitys an sich sogar positiv für die Integration sein können, weil Menschen mit ähnlicher Herkunft einander helfen, das Ankunftsland zu verstehen und in ihm zurechtzukommen, kann Abschottung schnell toxisch werden.

Anders reagieren Migranten, die als Fachkräfte nach Deutschland reisen: Sie bleiben fern. Im Gegensatz zu dem, was viele Menschen glauben, ist unser Land zunehmend unbeliebter, auch wenn die Anziehungskraft bislang nur langsam sinkt. Mangelnde Gastfreundschaft, Rassismus und migrationsfeindliche Stimmung sprechen sich herum und lassen andere Länder attraktiver werden: Neuseeland, Australien, Irland, die Schweiz, Schweden und Norwegen führen das Ranking an. Wer hoch qualifiziert ist, beispielsweise in einer Naturwissenschaft, in technischen Berufen oder der Medizin, sieht sich nach einer weltoffeneren Alternative um. Auch andere gesuchte Berufsgruppen, beispielsweise Berufskraftfahrer oder Pflegende, analysieren mittlerweile genauer, wo sie sich ansiedeln – auch danach, wo sie sich sicher fühlen.

 

Arbeit sorgt nicht nur für Geld, sondern vor allem für Sinn. Das Gefühl, für sich selbst und seine Familie sorgen zu können, aber auch Sicherheit und die gesellschaftliche Bewertung als „nützlich“ sind für viele Menschen extrem wichtig. Für Menschen aus Kulturen, die großen Wert auf Stolz oder die Versorgerrolle des Mannes legen, sowie für solche, die nie vorher von staatlichen Leistungen abhängig waren, gilt das besonders. Je länger Menschen – ganz gleich welcher Herkunft oder Nationalität – arbeitslos sind, desto größer ist das Risiko, Depressionen zu entwickeln. Auch der Einstieg in die Kriminalität, mangels Geld und Beschäftigungsalternativen, ist wahrscheinlicher. Bei Flüchtlingen, die niemanden vor Ort kennen, ist zudem die Möglichkeit, Anschluss und Gemeinsamkeiten zu finden, bedeutsam, um sich integriert zu fühlen.

Tatsächlich jedoch verbietet die langwierige Anerkennung als Flüchtling und ein unklarer Aufenthaltsstatus oft über Jahre hinweg die Aufnahme einer Arbeit. In dieser Zeit leidet nicht nur die Psyche, es gehen auch Fähigkeiten verloren. Besonders kompliziert gestaltet sich zudem die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Zwar erscheint es grundsätzlich eine gute Idee, dieselben Standards wie in Deutschland anzusetzen, um eine hohe Qualifikation zu garantieren. Doch anstatt den jeweiligen Kenntnisstand zu bewerten und zur Anerkennung lediglich mögliche Unterschiede oder Mängel nachlernen zu lassen, wird sie zumeist vollständig verweigert. Diese Abwertung schadet einerseits Migranten, die daran gehindert werden, ihren eigentlichen Beruf auszuüben. Andererseits schadet sie Deutschland, dem auf diese Art eigentlich nötige Fachkräfte entgehen.

 

Befragt man die Bevölkerung zum Thema Migration, entsteht allerdings oft ein absurdes Bild: Zwar bestätigen viele Bürger, dass sie Probleme bei fehlender Integration sehen. Gleichzeitig findet eine deutliche Mehrheit nicht, dass der Staat diesbezüglich mehr unternehmen sollte. Somit suggeriert Deutschland seiner Einwohnerschaft erfolgreich, ausreichend zur Integration beizutragen, obwohl die tatsächliche Situation sich vollkommen anders darstellt und anerkannte Integrationsforschung an einer Vielzahl von Stellen widerspricht.

Statt zu bemängeln, dass keine echte Integration im Sinne der Teilhabe stattfindet, scheint Befragte eher eine fehlende einseitige Assimilation zu stören. Tatsächliche Integration jedoch kann unter den herrschenden Umständen oftmals nicht von Migranten geleistet werden. Denn die genannten Punkte zur Ermöglichung der Integration wie legale Arbeitsaufnahme, Familiennachzug, Gastfreundschaft, Zugang zu Therapie und Sprachkurs lassen sich nicht durch Migranten lösen, sondern hängen von unserer Gesetzgebung und Gesellschaft ab. Durch das – von Teilen der Politik gewollte – Fehlverständnis entsteht eine Schuldverschiebung. Sie setzt als gegeben voraus, Integrationsprobleme bestünden primär vonseiten der Migranten – und müssten also bei ihnen gelöst werden. Von dieser Verzerrung profitieren rechte Strömungen enorm. Die einzig nachhaltige Lösung wäre, Integrationsdefizite offen einzugestehen und nachzubessern. Einerseits, um die Integrationschancen zu verbessern, andererseits, um die Verantwortlichkeit wieder ins richtige Licht zu rücken.

 

Ausgewählte Quellen:

https://www.aerzteblatt.de/archiv/traumatisierte-fluechtlinge-psychische-probleme-bleiben-meist-unerkannt-e5418162-ef43-452e-baec-1b6cde9f1d32

https://www.baff-zentren.org/faq/wie-viele-traumatisierte-gefluechtete-gibt-es/

https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/deutschland-migration-versorgung-traumatisierter-fluechtlinge-psychotherapie-trauma-baff-ungesunde-gemengelage

https://www.nds-fluerat.org/35182/aktuelles/aok-studie-drei-von-vier-kriegsfluechtlingen-sind-traumatisiert/

https://mediendienst-integration.de/artikel/wie-es-um-die-psychologische-versorgung-von-gefluechteten-steht.html

https://www.rosalux.de/publikation/id/3152/sie-suchten-das-leben-und-fanden-den-tod

https://www.sueddeutsche.de/politik/migration-32-suizidversuche-und-drei-suizide-gefluechteter-in-sachsen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-250512-930-530720

https://taz.de/Gefluechtete-in-Hamburger-Unterkuenften/!5786406/

https://web.de/magazine/politik/tuerkei-erdogan/mama-merkel-syrische-familie-zweite-heimat-41304650

https://aktuell.uni-bielefeld.de/2021/08/16/rassismus-bremst-den-prozess-der-integration/

https://web.de/magazine/politik/inland/integration-kleinsten-hilfe-streichen-41278134

https://www.zdfheute.de/wirtschaft/zuwanderung-arbeitsmarkt-abwanderung-gruende-100.html

https://www.capital.de/wirtschaft-politik/expat-studie–was-auslaendische-fachkraefte-an-den-deutschen-stoert-33640296.html

https://web.de/magazine/politik/inland/integration-kleinsten-hilfe-streichen-41278134

https://www.altenpflege-online.net/wie-viele-beschaeftigte-in-der-altenpflege-einen-migrationshintergrund-haben/

https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/gefluechtete-studie-migration-beschaeftigung-wir-schaffen-das-merkel-100.html