Als Luise mit ihrer Familie ans fruchtbare Donauufer zieht, hofft sie auf ein ruhigeres Leben ohne Krieg und Hunger. Doch sie kennt den Fluss noch nicht, nicht die Gefahren, die Wasser und Eis mit sich bringen können … Eine Flut-Kurzgeschichte aus dem Mittelalter.
Anno 1451
Unruhig blickte Luise auf den grauen Fluss hinaus, der sich, bestimmt einen Meter höher als sonst, durch sein ohnehin schon breites Bett wälzte. Donau, still ließ sie sich den Namen durch den Kopf gehen und befand ihn immer noch als unvertraut, obwohl sie nunmehr seit gut zwei Jahren hier lebten. Man schrieb Anno 1451, so sagte zumindest der Pfarrer, und dem glaubten sie, weil sie ihm immer glaubten. Und natürlich, weil er der Einzige war, der Buchstaben und Zahlen zu lesen gelernt hatte. Ihr war das Jahr gleich, für Luise war es nur das, in dem das Wasser mehr an den Feldern nagte als je zuvor.
Keine der 60 Seelen, die Hühlbach nun ihre Heimat nannten, kam ursprünglich von hier. Allesamt waren sie aus irgendeiner anderen Pfalzgrafschaft geflohen, die meisten inmitten der Wirren des Markgrafenkriegs, um in Frieden neu anzufangen. Es war ein guter, abgelegener Platz, kein einziger Söldner oder Plünderer hatte sich je hierher verirrt, obwohl irgendwann zuvor schon einmal jemand hier gesiedelt haben musste. Als sie angekommen waren, hatten jedoch nur noch ein paar Ruinen gestanden, denen man angesehen hatte, dass sie lange unbewohnt gewesen waren. Eine davon, oben auf dem Hügel hinter ihrem Hof, nutzten sie nun als Scheune, sie hatten sie nur neu eindecken und die Krähennester aus dem alten, geziegelten Kamin stochern müssen, falls sie dort einmal räuchern wollten. Gemeinsam und ohne irgendein Gerede hatten sie jedes Haus nacheinander gebaut, unausgesprochen war klar gewesen, dass derjenige der als erstes gekommen war, auch als erstes sein Heim bekam, danach war der Nächste an der Reihe. Egal, woher man ursprünglich stammte, jedem war von Anfang an bewusst gewesen, dass nur Zusammenhalt sie in der neuen Umgebung durchbringen würde, und auch so würde es für keinen von ihnen leicht werden.
Minutenlang starrte Luise in die endlos aufeinander folgenden Wellen, eine Hand an ihrer Haube, um sie gegen die scharfen Windböen an Ort und Stelle zu halten. Dabei spielte sie unwillkürlich mit dem Daumen an der Spitze des dicken, blonden Flechtzopfes, die, wie so oft, unartig darunter hervorlugte. Gedankenverloren den Kopf hebend, entdeckte sie ihre Nachbarin Anna, drei Dutzend Meter weiter am Ufer stehend, mit dem gleichen, verunsicherten Gesichtsausdruck wie sie selbst. Ob die anderen es nun zugaben oder nicht, sie alle fürchteten die unbezähmbare, unbekannte Macht des Wassers. Schüchtern grüßend hob Luise die Hand, dann hörte sie oben im Haus Klein-Jakob quäken, raffte die Röcke und stapfte wieder hinauf.
Eine Woche später waren die Sorgen noch größer geworden, denn mittlerweile schwappte die Donau unter dem tiefsten Zaun hindurch, den sie, wie ihre Nachbarn auch, erst in diesem Herbst mühsam und mit blutenden Fingern geflochten hatte. Mit jedem Auf und Ab schien die dreckige, braune Brühe ein weiteres Bröckchen Erde, einen weiteren Grashalm mitzunehmen. Zwei Tage zuvor hatte sich scharfer Frost über das Land gelegt und in der folgenden Nacht verwandelten sich Teile des Flusses in eine feste, blanke Fläche. Luise wusste nicht genau, ob das gut oder schlecht war, denn wo sie aufgewachsen war, war das größte Gewässer der Dorfweiher gewesen – und der war harmlos. Die sechsjährige Stina jedoch war, so wie die meisten Kinder des Kirchspiels, begeistert und schlidderte den halben Tag mit ihnen auf dem Eis herum. Luise aber ängstigte sich fast zu Tode und behielt Klein-Jakob fest im Griff, wie sehr er auch plärrte und sich wand. Vielleicht weil sie selbst, wie beinahe alle Übrigen, nicht schwimmen konnte.
Zugegebenermaßen war das Eis wunderhübsch, es bildete Formen, die sie nie zuvor gesehen hatte: Zauberhafte Muster zwischen den Pflanzen, hauchdünne, schwebende Glasuren und ganze Orgeln aus glasklaren, glänzenden Zapfen. Die raureifbedeckten Wiesen sahen aus wie gezuckert und knirschten bei jedem ihrer Schritte. Im Sommer war es noch schöner hier, Erlen säumten das Ufer und spendeten Schatten, hellgrünes Schilf rauschte leise im Wind. Trotzdem, Luise war das Gewässer nach wie vor unheimlich, sie hoffte bloß, dass sie sich noch daran gewöhnen würde. Denn die Böden hier waren erstaunlich fruchtbar – schon im ersten Jahr war sie überrascht und begeistert über die Erträge gewesen, die sie hervorgebracht hatten. Dieser Umstand und die Tatsache, dass die Männer an ruhigen Tagen Forellen angeln konnten, hatte dafür gesorgt, dass Stinas und Klein-Jakobs Rippen nicht mehr aussahen wie die des Gevatters persönlich, und das wiederum ließ auch Luise ruhiger schlafen, nach all den Entbehrungen der letzten Jahre.
Ab davon war sie froh, dass sie Andreas hatte, er war ein guter Mann. Stets still und fleißig, trank er nur freitags, ging immer pünktlich mit ihr zur Kirche und war imstande, ihr Trost zu spenden, wenn sie die Sorgen einmal überwältigten und nachts in ihre Wolldecke weinen ließen. Dazu schlug er, in den seltenen Fällen, in denen es eine Maulschelle benötigte, um sie oder die Kinder zu disziplinieren, unwillig und fast schon sanft zu. Nicht so wie ihr Vater, der jede sich bietende Gelegenheit genutzt hatte, um sie windelweich zu prügeln, bevor er sich unter Lästerung und Fluchen zu Tode gesoffen hatte. Andreas jedoch war – obwohl mit seinen 27 Wintern nur zwei Jahre älter als sie selbst – wie ein Fels in der Brandung für Luise und sie freute sich darauf, ihm das dritte Kind zu schenken, denn seit drei Monaten blieb ihre Blutung aus und sie ahnte, woran das lag.
Im Moment allerdings überschatteten die Gedanken an den Fluss alles andere. Von dem Augenblick an, in dem sie im Morgengrauen unter Martha oder Lisa auf ihrem Einbein hockte, bis sie mit schmerzenden Knochen auf ihren Strohsack niedersank, glaubte Luise vom Gluckern und Schlagen des Wassers verfolgt zu werden. Und jedes Mal, wenn sie dort hinaussah, sich gewahr werdend, dass es einen weiteren Zentimeter näher gerückt war, entfuhr ihr ein „Gott erbarme dich!“, obschon sie aus Erfahrung wusste, dass er das vermutlich nicht tun würde. Der Regen prasselte unermüdlich aus dem bleigrauen Himmel nieder, legte sich wie ein Schleier über die kleine Siedlung und ließ ihr das Herz eng werden. Erneut schweiften ihre Augen über die spitzen, reetgedeckten Dächer und qualmenden Schornsteine, betrachteten nahezu liebevoll die kleinen Gärten und Felder, die sie größtenteils erst im vergangenen Jahr urbar gemacht hatten. Luise merkte, dass sie nicht schon wieder fort wollte. Fluss hin oder her – erneut die Strapazen der Reise, Armut, Hunger, Kälte und Unsicherheit zu ertragen, und wer wusste wie lang dieses Mal, war ihr zu viel.
Abends brach das Eis auf und mit einem Mal verwandelte sich die Donau in ein Meer aus Schollen, manche sicherlich schwerer als ein Ochse, die wie ein lebendig gewordenes Gebirge an ihr vorbeitrieben, aneinander stießen und sich ineinander verkeilten. Auch so etwas hatte Luise noch nie gesehen, sie schwankte zwischen Faszination und Schrecken. Das Wasser war nun wirklich bedrohlich nah, der Zaun längst verloren, und die beiden Kühe traute sie sich nicht mehr aus dem Stall zu lassen. Am schlimmsten allerdings war das Geräusch, das entstand, wenn der Wind über die Schollen glitt: Ein Pfeifen, ein hohes Singen wie von den grausamsten Dämonen – Luise lag die ganze Nacht wach und zitterte. Abends las der Pfarrer eine Messe außer der Reihe und die kleine, andächtig lauschende Gemeinde schickte ihre hoffnungsvollen Gebete an den heiligen Sabinus. Luise jedoch empfand in der Kälte des kleinen Bruchsteinbaus nichts als Furcht. Trotzdem schien es am nächsten Tag, als seien sie erhört worden, denn das Wasser ging zurück. Eine Handbreit zwar nur, aber immerhin – Erleichterung machte sich breit.
Doch diese währte nicht lange, denn bereits am selben Abend begann das Wasser wieder zu steigen, diesmal schneller als je zuvor. Und so lag Luise auch in dieser Nacht wach, angstvoll den unheimlichen Geräuschen vorm Fenster lauschend, frierend und betend, dass das Wasser sie verschonen und nicht im Schlaf ertränken möge. Irgendwann aber döste sie trotzdem ein, überwältigt von Erschöpfung. Als sie wieder hochschreckte, hatte sich etwas verändert und im ersten Moment kam sie nicht darauf, was es war. Dann merkte sie, dass sich die Luft kalt und klamm anfühlte, dazu von ohrenbetäubendem Tosen erfüllt war – ihr war schleierhaft, wie Andreas und sie bis jetzt dabei hatten weiterschlafen können. Nun jedenfalls saß sie augenblicklich senkrecht im Bett, panisch nach Atem schnappend. Noch im Nachtgewand stürmte sie zum Eingang und riss die Tür auf, nur um von einem Schwall eisigen Wassers begrüßt zu werden, der ihr die Luft aus den Lungen presste. Vergeblich versuchte Luise, die Tür gegen das anströmende Nass wieder zuzudrücken, doch sie hatte keinen Erfolg. Luise hatte nicht gemerkt, dass sie schrie, aber kaum war sie in die Stube zurückgetaumelt, stand Andreas hinter ihr und rief ihr über den Lärm zu:
„Nimm die Kinder, ich schaff das Vieh hinaus!“
Luises Herz raste wie ein galoppierendes Pferd.
„Ave Maria, gratia plena,“
In der Dunkelheit raffte sie einen Laib Brot, die Öllampe und einige Kleinigkeiten in einem Tuch zum Bündel zusammen.
„dominus tecum, benedicta tu in mulieribus…“
Sie stürmte die Treppe zum Boden hinauf.
„…et benedictus fructus ventris tui, Iesus.“
Draußen krachte es laut, als eine Eisscholle den Türsturz rammte.
„Sancta Maria, mater dei,“
Stina erwartete sie weinend am Treppenabsatz, während Klein-Jakob mit schreckensweiten Augen und angezogenen Knien in seinem Alkoven kauerte.
„ora pro nobis peccatoribus,“
Luise riss ihn hastig heraus, schulterte gleichzeitig das Bündel und packte das Mädchen bei der Hand –
„nunc et in hora mortis nostrae.“
– dann ging es wieder hinunter in das höllenkalte Wasser und durch die Hintertür hinaus.
„Amen!“
Draußen konnte sie nur vage Andreas‘ gebeugte Gestalt erkennen, mit aller Kraft stemmte er sich in die Stricke, um die aufgewühlt brüllenden Kühe zu bändigen. Sie bewunderte eine Sekunde lang im Stillen seine Stärke – sicher trug er auch noch ihre beiden jungen Säue im Rock.
„Zur Scheune!“
Sie wusste nicht, ob er sie über das Donnern der Donau hinweg verstand, doch ihr selbst blieb ohnehin keine Wahl, als sich zu eilen – sie stand bereits bis zu den Hüften in der Flut und die Strömung zerrte erbarmungslos an ihren Schößen. Mehr schleifte sie Stina hinter sich her, als dass diese noch hätte gehen können, kämpfte sich verbissen vorwärts und den steilen Hang hinauf, während sie die Strömung fast von den Beinen riss. Luise verlor einen Schuh und erreichte endlich festen Grund. Die halb erfrorenen Zehen in den schlammigen Grund gepresst, gelangte sie zum Scheunentor. Andreas traf nur Sekunden später mit dem Vieh ein. Gemeinsam schoben sie die Tore zu und lagen dann minutenlang wortlos keuchend im Heu.
Schließlich wagten sie, aus dem kleinen Fenster zu sehen, und mussten voller Entsetzen feststellen, dass sie sich nun auf einer Insel befanden. Rundherum tobten die Fluten, gigantische Eisbrocken zerschnitten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Luise sah, wie sich eine der Schollen unter grässlichem Kreischen in den Stamm der dicken, alten Weide sägte und sie fällte – da wandte sie sich schaudernd ab. Mit steifen Fingern entzündete sie ein Feuer im Kamin, dann saßen sie allesamt stumm davor, kneteten und wärmten die erfrorenen Gliedmaßen. Beruhigen konnte sie sich jedoch nicht, denn nur weil sie sich für den Moment gerettet wähnten, hieß das noch lange nicht, dass sie tatsächlich in Sicherheit waren – nur der Herr wusste schließlich, wie hoch das Wasser steigen mochte. Die Geräusche draußen wurden immer beängstigender, es krachte und knirschte, als geriete die ganze Welt aus den Fugen. Plötzlich hörte Luise verzweifelte Schreie und lief erneut zum Fenster. Der Anblick des Eises war sogar noch entsetzlicher als zuvor, es glich glänzenden Klingen, die sich aufzubäumen schienen, sich zu regelrechten Hügeln türmten, wo sie auf ein Hindernis trafen. Die scharfen Kanten schimmerten geisterhaft weiß im Mondlicht und mitten darin entdeckte sie ein, nein zwei Menschlein – Luise sah gerade noch Kopf und emporgereckte Arme, sie rasten in halsbrecherischem Tempo vorbei. Erneut zerriss ein Gellen die Luft, dann ging der erste der Verlorenen unter, kurz war eine einzelne, verkrampfte Hand zu sehen, dann war er fort. Schlimmer erging es dem anderen Mann – Philip, ihrem Böttcher, wie Luise erkannte. Vor Grauen presste sie die Hand auf den Mund, als er unter furchtbaren Lauten zwischen zwei Schollen zermalmt wurde. Mit aufgerissenen Augen stürzte sie zurück ans Feuer zu ihrer Familie, wo sie sich aneinanderklammerten.
Im Morgengrauen erwachte Luise, weil ihr das Wasser in die Kleidung kroch. Zermürbt und mit grauen Gesichtern stiegen sie die Treppe zum Boden hinauf, vergruben sich mit klappernden Zähnen im Stroh, aßen das letzte Brot und beteten im Stillen, dass das Fundament halten würde. Es hielt, und nach einer weiteren Nacht zwischen Hoffen und Bangen sank die Flut endlich. Beinahe schlagartig zog sich das Wasser zurück, als habe sich irgendwo ein Loch aufgetan, in dem es verschwand.
Gegen Mittag stand Luise blinzelnd im Sonnenlicht vor dem Scheunentor, Stina an der linken, Klein-Jakob an der rechten Hand gepackt, fassungslos auf die zerstörte Landschaft hinaussehend, die ihr bis vor zwei Tagen noch so vertraut gewesen war. Die Hälfte der kleinen Höfe war fortgespült oder geschleift worden, kaum ein Gebäude hatten die Fluten verschont. Ihr eigener Hof hatte – wie durch ein Wunder – den Wassermassen zumindest standhalten können, wenn sie sich auch nicht vorstellen mochte, wie es im Inneren aussah. Alle Äcker versanken im Matsch, die meisten Bäume lagen zersplittert am Boden. Das kommende Jahr würde hart werden. Doch bei Gott, sie lebten noch, und Luise empfand in diesem Moment nichts als Dankbarkeit dafür.