Carnevale nero

Neidgesellschaft

 

Karneval steht vor der Tür und als Kölnerin von Herzen wäre das für mich normalerweise ein Grund zur Freude. Dieses Jahr ist die Freude getrübt, in zweiter Linie durch Corona, in erster dank eines Gebarens, das durch die Seuche noch mehr zutage tritt als ohnehin schon. Bereits am 11. im 11. titelten die Zeitungen bundesweit mit dünkelhaftem Entsetzen über die Straßen voller Feiernder. Mit 2G, versteht sich, lange bevor die Regel in der Politik ernsthaft zur Sprache kam. Nun kann man anführen, dass die „grauenvoll überfüllten Straßen“ späteren Untersuchungen nach gar keinen signifikanten Unterschied für das Infektionsgeschehen gemacht haben. Allerdings ging das bei denselben Zeitungen im Nachhinein unter – vielleicht mangels Schlagzeilenpotenzial. Oder doch aus Neid. In den kurzlebigen sozialen Medien spielt derartige Faktenklauberei ohnehin keine Rolle.

Man kann auch darüber diskutieren, ob sich die Kölner das Feiern nicht schlicht verdient haben: Aktuell haben wir eine Impfquote von 80,6 Prozent, was sowohl über dem Bundes- als auch über dem Landesdurchschnitt liegt. Querdenker-Aufmärsche ziehen hier kaum 2000 Teilnehmer an – andere Millionenstädte kommen auf ein Vielfaches dieser Zahl. Dass es nach zwei Jahren guttut zu feiern, dass das Bunte, Ausgelassene tief in unserer Kultur verwurzelt ist, scheint keine Rolle zu spielen. Rücksicht ist gefragt. Nur auf wen? Rücksicht ist keine Einbahnstraße. Aber offenbar ist es wesentlich einfacher, geimpfte Karnevalisten zu kritisieren, als pandemietreibende Schwurbler in die Pflicht zu nehmen.

 

Wer bekommt 50 Millionen?

 

Der nächste Akt folgt prompt auf die Zahlung von 50 Millionen des Landes NRW an Karnevalsvereine – weil die Branche so sehr gelitten hat. Das ruft ein Potpourri an Reaktionen hervor, die meisten entsetzt. Allen voran ein auf Twitter unter „Intensivdoc“ logierender Nutzer, der sich vor Entrüstung kaum halten kann. Eine ganze Meute sich in gegenseitiger Bestärkung auf die Schulter klopfender Follower bestätigt die Untat – viele aus Gesundheitsberufen. Wie entsetzlich, eine solche Gabe, an nutzlose Karnevalsvereine, wo doch das Gesundheitswesen am Boden liege. Geld für Suffköppe, aber keinen Pflegebonus zahlen, welch moralischer Abgrund. Derartige Polemik scheint für viele wohltuend zu sein, ist aber, wie Polemik das gerne an sich hat, bereits sachlich falsch: Der Pflegebonus wird von der Bundesregierung (nicht) bezahlt, nicht vom Land NRW – die Mittel haben rein gar nichts miteinander zu tun. Und das Gesundheitswesen geht nicht (nur) aufgrund bösartiger Politiker und ganz sicher nicht wegen Brauchtumsveranstaltungen, sondern auch aufgrund der eigenen Arbeitgeber vor die Hunde. Denn die beiden größten Krankenhausketten Helios und Asklepios nagen mitnichten am Hungertuch. Ganz im Gegenteil, beide konnten ihre Umsätze 2021 sogar steigern – letztere auf 1,8 Milliarden.

 

Jeder für sich

 

Die Argumentation ist aber auch ethisch zutiefst verwerflich.

„Wieso soll ich als Kinderloser für irgendwelche Spielplätze mitbezahlen?“, las ich vor Kurzem in einem Forum.

„Wir bezahlen schon genug Steuern, wir müssen nicht auch noch einen höheren Mindestlohn finanzieren, ist doch nicht unsere Schuld.“, erklärte ein verwandtes Ehepaar.

Nicht zuletzt der Dauerbrenner:

„Warum helfen wir Flüchtlingen, wenn doch unsere Rentner Flaschen sammeln müssen?“

Kommt euch bekannt vor? Wahrscheinlich, denn es ist eine in Variationen typische Rechtsaußen-Aufwiegelei. Wo liegt der Unterschied zu:

„Warum bekommen Karnevalsvereine Geld, wenn wir schlechte Schutzkleidung kriegen?“

Ich weiß es nicht, ich wage auch zu bezweifeln, dass die gönnerhafte Meute es weiß. Spannend an dieser Stelle auch, dass einige dieser Aussagen von einer Klientel zu kommen scheinen, die sich sonst gerne für die „Kulturschaffenden“ verbal in die Bresche wirft. Ist Karneval die falsche Kultur? Zu prosaisch? Zu fröhlich? Leiden nur Theater? Natürlich müsste man sich für differenzierte Aussagen wenigstens minimal darüber informieren, wer oder was Karneval eigentlich ist. Fastelovend besteht nicht nur aus dem – generell durchaus sehr wohlhabenden – Dreigestirn. Es besteht aus Kleinkünstlern und Musikern, Veranstaltungstechnikern, Kunsthandwerkern und Handwerkern vom Hutmacher bis zum Wagenbauer, aus Kostümschneidern und Gastronomen. Und wenn vom „Leid der Branche“ die Rede ist, ist gemeint, dass nicht wenige ihre Lebensgrundlage verloren haben, arbeitslos, manchmal wohnungslos geworden sind, zur Tafel gehen, Insolvenz anmelden. Sich mit Suizidgedanken tragen.

 

Corona ist für alle scheiße

 

Versteht mich nicht falsch: Wenn ein Pfleger schildert, wie anstrengend es ist, einen 140- Kilogramm-Mann zu drehen, dann nehme ich das ernst. Ich habe keine Zweifel daran, dass die Arbeit unter und mit Corona unsagbar anstrengend ist. Ich könnte keinen dieser Jobs machen, ganz ehrlich. Nur spielt das an der Stelle keine Rolle. Das Problem ist, dass eigenes Leid nicht das einzige Leid ist. Und dass die sich hier Echauffierenden gerade das in den Dreck ziehen, was sie selbst (zurecht) mit aller Macht einfordern: Rücksicht, Mitgefühl, Solidarität. Fremdes Leid hier zu negieren, heißt jede Empathie verloren zu haben. Denn wer von den Empörten möchte denn wirklich mit allen Konsequenzen tauschen? Ein Termin bei der Schuldnerberatung (zurzeit aber schwer zu kriegen …), ein Plätzchen in der Warteschlange bei der Nahrungsmittelausgabe (gibt es leider nicht, weil die meisten überlastet sind), eine Ecke für den Schlafsack auf der Domplatte (wird ja bald Sommer). Denn jeder Pfleger, jeder Arzt hätte diese Wahl – umgekehrt haben die Betroffenen das üblicherweise nicht.

 

Damit möchte ich nicht sagen, dass Menschen im Gesundheitswesen aufhören sollten zu protestieren, aufhören sollten Änderungen zu verlangen, ganz im Gegenteil! Die Situation ist scheiße und die meisten Menschen sind sich dessen bewusst. Nur können die wenigsten etwas daran ändern. Was ich mir von den Empörten hingegen wünsche ist, die eigene Blase zu verlassen und andere Betroffene wahrzunehmen. Das Gönnen-Können wieder zu lernen. Und ehrlich gesagt, gilt das auch für alle anderen Menschen, deren geistige Haltung von „Warum soll ich, wenn die nicht …“ und „Warum kriegen die, wenn ich nicht …“ geprägt ist.

 

Mer stonn zesamme.

 

Quellen u. a.

https://www.24rhein.de/koeln/karneval-koeln-corona-11-11-inzidenz-untersuchung-henriette-reker-stadt-91139639.html

https://www.24rhein.de/rheinland-nrw/karneval-intensivdoc-karnevalsvereine-finanzhilfe-foerdergeld-nrw-millionen-euro-arzt-twitter-91344689.html

https://twitter.com/narkosedoc/status/1492243332587732994

https://www.fresenius.de/9594

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/dienstleister/klinikkonzern-klinikbetreiber-asklepios-steigert-umsatz-trotz-coronakrise/26133776.html?ticket=ST-1232914-Sodw5WiCeQj0eyxUWa7G-ap2

https://koelner-tafel.de/empfaenger/ausgabestellen/