Anthologien: Cover Gewässer

Wenn alte Wellen singen

Wenn alte Wellen singen

 

Wer dem Wasser richtig zuhört, dem offenbaren sich Geschichten aus längst vergangener Zeit – geheimnisvoll, beängstigend, tragisch.
Höre davon, wie aus dem Wunsch, auf dem Seeweg neues Land zu erkunden, ein wahrer Alptraum wird. Sieh bangen Herzens zu, wenn Könige in der nassen Flut ihr Leben lassen. Sei dabei, wenn die Nordländer in eine fremde Welt aufbrechen. Ergründe die Geheimnisse eines höchst schicksalhaften und oft willkürlichen Elements. Denn Wasser gibt und nimmt gleichermaßen …
16 Autorinnen und Autoren haben sich auf den Weg gemacht, dem kühlen Nass seine Geschichten zu entlocken. In ihren Kurzgeschichten berichten sie von Geheimnissen, die Flüsse und Seen seit Jahrhunderten bewahren, erzählen von Schätzen, die das Meer für immer vor den Augen der Welt verborgen hat, und von magischen Wesen, deren Kontakt mit den Menschen trotz guter Absichten manchmal viel Schaden anrichtet.
Hör genau hin und lausche den Klängen des Wassers, wenn alte Wellen singen …

 

Taschenbuch: 12,90 €

E-Book: 3,99 €

 

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Leseprobe

Unruhig blickte Luise auf den grauen Fluss hinaus, der sich, bestimmt einen Meter höher als sonst, durch sein ohnehin schon breites Bett wälzte. Donau, still ließ sie sich den Namen durch den Kopf gehen, und befand ihn immer noch als unvertraut, obwohl sie nunmehr seit gut zwei Jahren hier lebten. Man schrieb Anno 1451, so sagte zumindest der Pfarrer, und dem glaubten sie, weil sie ihm immer glaubten. Und natürlich, weil er der Einzige war, der Buchstaben und Zahlen zu lesen gelernt hatte. Ihr war das Jahr gleich, für Luise war es nur das, in dem das Wasser mehr an den Feldern nagte, als je zuvor.

Keine der 60 Seelen, die Hühlbach nun ihre Heimat nannten, kam ursprünglich von hier, allesamt waren sie aus irgendeiner anderen Pfalzgrafschaft geflohen, die meisten inmitten der Wirren des Markgrafenkriegs, um hier in Frieden neu anzufangen. Es war ein guter Platz, kein einziger Söldner oder Plünderer hatte sich je hierher verirrt, obwohl irgendwann zuvor schon einmal jemand hier gesiedelt haben musste. Als sie angekommen waren, hatten jedoch nur noch ein paar Ruinen gestanden, denen man angesehen hatte, dass sie lange unbewohnt gewesen waren. Eine davon, oben auf dem Hügel hinter ihrem Hof, nutzten sie nun als Scheune, sie hatten sie nur neu eindecken und die Krähennester aus dem alten, geziegelten Kamin stochern müssen, falls sie dort einmal räuchern wollten. Gemeinsam und ohne irgendein Gerede hatten sie jedes Haus zusammen und nacheinander gebaut, unausgesprochen war klar gewesen, dass derjenige der als erstes gekommen war, auch als erstes sein Heim bekam, danach war der nächste an der Reihe. Egal woher man ursprünglich stammte, jedem war von Anfang an bewusst gewesen, dass nur Zusammenhalt sie in der neuen Umgebung durchbringen würde, und auch so würde es für keinen von ihnen leicht werden.

Minutenlang starrte Luise noch in die endlos aufeinander folgenden Wellen, eine Hand an ihrer Haube, um sie gegen die scharfen Windböen an Ort und Stelle zu halten. Dabei spielte sie unwillkürlich mit dem Daumen an der Spitze des dicken, blonden Flechtzopfes, die, wie so oft, unartig darunter hervorlugte. Gedankenverloren hob sie den Kopf und entdeckte Anna, ihre Nachbarin, drei Dutzend Meter weiter am Ufer stehen, mit dem gleichen, verunsicherten Gesichtsausdruck wie sie selbst. Ob die Anderen es nun zugaben oder nicht, sie alle fürchteten die unbezähmbare, unbekannte Macht des Wassers. Schüchtern grüßend hob Luise die Hand, dann hörte sie oben im Haus Klein-Jakob quäken, raffte die Röcke und stapfte wieder hinauf.

Eine Woche später waren die Sorgen noch größer geworden, denn mittlerweile schwappte die Donau unter dem tiefsten Zaun hindurch, den sie, wie alle Anderen auch, erst in diesem Herbst mühsam und mit blutenden Fingern geflochten hatte. Mit jedem Auf und Ab schien die dreckige, braune Brühe ein weiteres Bröckchen Erde, einen weiteren Grashalm mitzunehmen. Zwei Tage zuvor hatte sich scharfer Frost über das Land gelegt und in der nächsten Nacht verwandelte sich der Fluss in eine feste, blanke Fläche. Luise wusste nicht genau, ob das gut oder schlecht war, denn wo sie aufgewachsen war, war das größte Gewässer der Dorfweiher gewesen – und der war harmlos. Die sechsjährige Stina jedoch war, so wie die meisten Kinder des Kirchspiels, begeistert und schlidderte den halben Tag mit ihnen auf dem Eis herum. Luise aber ängstigte sich fast zu Tode und behielt Klein-Jakob fest im Griff, wie sehr er auch plärrte und sich wand. Vielleicht weil sie selbst, wie beinahe alle Übrigen, nicht schwimmen konnte.